«Wenn psychisch Betroffene zu Experten werden» Psychische Erkrankungen nehmen in der Schweiz weiter zu, vor allem bei Jugendlichen. Recovery ist ein gesundheitsfördernder, ganzheitlicher Ansatz, der das Genesungspotential der Betroffenen hervorhebt, unterstützt und auf Empowerment setzt: Im neuen Recovery-College Schaffhausen profitieren davon Betroffene wie auch Fachpersonen. Michael Schäppi«Nur wenige Schweizer kommen ohne seelische Krise durchs Leben», titelte kürzlich die Neue Zürcher Zeitung. Auch die Statistiken des Bundesamtes für Gesundheit sprechen eine deutliche Sprache: 18 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind von psychischen Problemen betroffen, 10 Prozent der Bevölkerung zeigen beispielsweise mittelschwere bis schwere Symptome einer Depression. Doch wann ist man gesund? Wer ist krank? Und wer hat das Recht, dies zu definieren? Schizophrenie-Patientin wird klinische Psychologin Der Widerstand gegen die Diagnose «unheilbar krank» begann vor rund 30 Jahren in den USA. Damals gründete Patricia Deegan, Schizophreniepatientin in einer Klinik und heute promovierte klinische Psychologin, mit anderen Langzeitpatienten die Recovery-Bewegung. Aus der Idee wurde eine weltweite Bewegung der Hoffnung. Bald wurde erkannt, dass die Begegnung auf Augenhöhe, der Glaube an den Patienten und dessen Empowerment eine bahnbrechende Wirkung haben können. Inzwischen hat sich Recovery auch in der Schweiz etabliert. Die Kurse des neu gegründeten «Recovery College Schaffhausen» waren innert kürzester Zeit ausgebucht. So auch der Kurs «Das Märchen von der Unheilbarkeit und die Möglichkeiten von Recovery». Ein Teilnehmer gesteht: «Am Anfang hat es mich etwas Überwindung gekostet, mich anzumelden. Aber meine Erwartung, neue Ressourcen zum Thema Gesundheit und Krankheit zu gewinnen, hat sich erfüllt». Ganz nach dem Motto «Begegnung auf Augenhöhe» nahmen Betroffene, Ärzte, psychiatrisch Tätige, aber auch Angehörige von psychisch Erkrankten an diesem Trialog teil. «Davon profitieren die Fachpersonen genauso wie die Betroffenen», meint Helen Schneider, die als Peer, also als ausgebildete Expertin, den Kurs mitleitet, «denn hier findet eine Begegnung von Mensch zu Mensch statt. Die Betroffenen merken, dass auch Ärzte nicht perfekt sind, und die Ärzte wiederum nehmen nicht nur für ihre Patienten wertvolle Tipps mit, sondern auch für sich selbst». Im Kurs wandelte sich die anfängliche Distanz schnell in einem produktiven, kreativen und wohlwollenden Miteinander. Lebensthemen zum Anfassen Salutogenese, Empowerment, die eigene persönliche Schatzkiste: Im Trialog werden lebenspraktische Themen vermittelt, diskutiert und in Gruppenarbeiten erarbeitet. Wer eine theoretische Abhandlung ohne Bezug zum eigenen Leben erwartet, ist hier fehl am Platz. «Denn Genesung findet in mir statt», erklärt Dieter Reichl. «Da kann ich noch so viele Bücher studiert haben. Recovery ist ein Prozess, der einen neuen Blick auf sich und andere eröffnet.» Was das bedeutet, erfahren die Teilnehmer ganz praktisch - immer mit Blick auf die eigene Lebensgeschichte. Beim Thema Salutogenese, der Frage, was meine Gesundheit fördert, konnten die Fachleute von den Betroffenen profitieren. Das Beispiel einer Teilnehmerin zeigte persönlich erprobtes Know-how: «In meine eigene Schatzkiste gehört auf jeden Fall die Selbstfürsorge, beispielsweise nach einem anstrengenden Tag Zeit für ein Bad einzuplanen, über Mittag meinen Partner anzurufen und ihm zu sagen, dass ich ihn liebe. Oder einmal bewusst durch den Wald zu gehen und aufzuzählen, welch wunderbare Details die Natur heute für mich bereithält.» Götter in Weiss - oder Menschen? Nach dem dritten Kurstag ermöglicht die gewachsene Vertrautheit einen noch persönlicheren Austausch. «Als Assistenzärztin habe ich mich nicht getraut zu sagen, dass ich etwas nicht im Griff habe», sagt beispielsweise eine Psychiaterin. Aber mit zunehmender Erfahrung falle es ihr leichter, vor Kollegen zuzugeben, wenn sie mit einem Patienten nicht mehr weiterkomme. Auch dem Patienten gegenüber erlaube sie sich manchmal, auf Schwierigkeiten hinzuweisen. «Unerwartet war für mich, dass ich darauf nur positive Reaktionen erhalten habe.» Ermutigt habe sie eine Studie, wonach 30 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in den letzten drei Monaten zeitweise mit eigener psychischer Problematik zu kämpfen hatten. «Doch es ist wichtig, dass auch Therapeuten Therapie in Anspruch nehmen.» Aber bei nicht wenigen spiele der Gedanke eine Rolle: «Ich bin doch selbst Fachmann, warum soll ich zum Therapeuten gehen». Eine Betroffene meinte nach dieser Aussage: «Plötzlich merke ich, dass Fachpersonen auch nur Menschen sind. Ich merke, dass ich zum Teil unermessliche Erwartungen an sie hatte.» Er fühle sich nun verstanden und befähigt, mehr Eigeninitiative zu ergreifen. Dieter Reichl ergänzt: „Mut zum Beziehungsaufbau durch eine offene und transparente Kommunikation sollen die Begegnung prägen. Vorbild zu sein in emotionaler und ethischer Hinsicht tragen zu einem hoffnungsvollen miteinander bei“. «Etwas vom Befreiendsten, was ich je erlebt habe» Ein Teilnehmer zieht nach dem Kurs für sich das Fazit: «Genau dort, wo ich mit meinen Schwierigkeiten in Berührung komme, entscheide ich mich, sie anzunehmen und in mein Leben zu integrieren. Dabei mache ich immer wieder die Erfahrung, dass sich vermeintliche Schwächen in Ressourcen verwandeln. Der Recovery-Ansatz ist etwas vom Befreiendsten, was ich in meinem Leben erlebt habe!
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